DOC on AIR - Erste Hilfe im Alltag

Notfallmedizin im Alltag

#42 - ME/CFS - Myalgische Enzephalomyelitis / Chronische Erschöpfungssyndrom

14.12.2024 20 min

Zusammenfassung & Show Notes

In dieser Episode von "Doc on Air" thematisiere ich das chronische Erschöpfungssyndrom (CFS), auch bekannt als myalgische Enzephalomyelitis (ME). Ich erläutere die vielschichtigen Symptome und die Herausforderungen bei der Diagnose, die oft aufgrund der Unsichtbarkeit der Symptome entstehen. CFS stellt eine eigenständige, komplexe Multisystemerkrankung dar, die nicht ernst genommen wird. Wir betrachten die Auswirkungen auf unterschiedliche Altersgruppen und die häufigen Verwechslungen mit anderen Diagnosen. Ein zentraler Aspekt ist die postexertionelle Malaise (PEM) und die dramatische Einschränkung der Lebensqualität der Betroffenen. Ich bespreche die mangelnden Behandlungsmöglichkeiten und die Notwendigkeit einer genauen Differenzialdiagnose. Abschließend appelliere ich an ein besseres Verständnis in der Gesellschaft und der medizinischen Gemeinschaft, um den Hunderttausenden erkrankten Menschen die benötigte Unterstützung zukommen zu lassen.

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DOC-ON-AIR - Der Podcast für den Umgang mit medizinischen Notfällen im Alltag von Dr. Joachim Huber.

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#notfallmedizin #ersthilfe #teambuilding #alleswirdgut

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Transkript

Music. Doc on Air, der Podcast, der Ihnen hilft, richtig erste Hilfe zu leisten. Was tun, wenn jemand Hilfe schreit? Was tun, wenn zu Hause was passiert? Als erfahrener Notarzt zeige ich Ihnen, wie es geht. Unser Ziel, Wissen statt Angst und Können statt Zweifel. Ein herzliches Willkommen, liebe Zuhörerinnen und Zuhörer. Heute berichte ich vom chronischen Erschöpfungssyndrom, einem Krankheitsbild mit vielen, teils komplizierten Namen. Zum Beispiel myalgische Enzephalomyelitis, ME abgekürzt, oder systemische Belastungsintoleranzerkrankung, SEID, oder febrikular wie Fieberanfall, Neurasthenie, chronische Brucellose, Anstrengungssyndrom. Seit 1988 verwendet die medizinische Wissenschaft auch den Begriff chronische Fatigue, CFS. Diese scheinbar unerklärliche Gesundheitsstörung wurde zum ersten Mal, staunen Sie, bereits in der Mitte des 17. Jahrhunderts beschrieben. Es handelt sich dabei um ein Syndrom der mindestens ein halbes Jahr andauernden, lebensverändernden Müdigkeit und Erschöpfung. CFS wird am häufigsten bei jungen Patienten, aber auch bei Damen und Herren mittleren Alters beschrieben. Die Symptome wurden in allen Altersgruppen einschließlich Kindern und bei beiden Geschlechtern festgestellt. Weltweit sind etwa 17 Millionen Menschen betroffen. Allein in den USA lebt ca. Ein Viertel aller Menschen unter chronischer Müdigkeit. Aber nur etwa 0,5% der Population erfüllen die Kriterien für CFS. In Deutschland, Österreich und der Schweiz wurde die Zahl der ME/CFS-Betroffenen vor der Covid-19-Pandemie auf etwa 300.000 geschätzt. Darunter 40.000 Kinder und Jugendliche. Experten der MedUniversität Wien gehen davon aus, dass in Österreich vor Covid-19 ca. 1% der Gesamtbevölkerung erkrankt waren. Nach der Pandemie waren ca. 80.000 Menschen betroffen. Aber auch bei mehr als der Hälfte aller Krebserkrankten mit chronischen Problemen, auch bei diesem tritt nach der Strahlenchemotherapie oder der folgenden Operation eine derartige Problematik, wie wir sie unter ME/CFS nennen, auf. Diese Krankheit ist eine schwerwiegende chronische Multisystemerkrankung und international als eigenständiges Krankheitsbild anerkannt. Die WHO stuft sie seit 1969 als eine neurologische Erkrankung ein. Das Krankheitsbild wird leider oft sehr lange nicht erkannt bzw. sind viele Symptome irreführend, da sie denen der Fibromyalgie ähneln. Zum Beispiel die Schlaf- und psychischen Störungen, Müdigkeit, Schmerzen, Verschlimmerung der Symptome bei Aktivität. Der Beginn ist in der Regel abrupt und oft auch nach einem psychischen oder medizinisch anstrengenden Ereignis. Viele Patienten berichten von einer anfangs virusähnlichen Erkrankung mit geschwollenen Lymphknoten, extremer Müdigkeit, Fieber und Symptomen der oberen Atemwege. Diese anfänglichen Symptome verschwinden oft kurzfristig, scheinen aber eine langanhaltende, schwere Müdigkeit auszulösen. Durch Ruhe- und Schlafversuche ändert sich aber gar nichts an dem Beschwerdebild. Die Patienten leiden auch zusätzlich unter Schlaf- und Wahrnehmungsstörungen, ebenso wie Gedächtnisproblemen. Sie schildern eine Art nebliges Denken. Generalisierte Schmerzen sind ebenfalls häufig dazugehörend. Nun, das Problem ist auch hier die Diagnostik. Eine körperliche Untersuchung ist nämlich meist ohne bösen Befund. Man findet auch bei unauffälliger Herz-Kreislauf-Lungen-Funktion keine Zeichen irgendeiner Muskelschwäche oder neurologische Defizite, zumindest bei der raschen, schnellen Diagnostik. Je genauer man die Anamnese führt und je genauer man die Diagnose führt, umso eher ist die Wahrscheinlichkeit, dass dieses Krankheitsbild entdeckt wird. Das Problem hier ist, dass die Patienten ja in der Regel gesund zu sein scheinen. Und damit äußern sich auch Freunde, oft auch Familienangehörige und leider auch sehr oft Ärzte skeptisch über ihre Erkrankung. Was natürlich die Frustration und die Depressionen, die die Patienten angesichts ihrer kaum verstandenen Erkrankung oft empfinden, noch verstärken kann. Lassen Sie mich das ganz eindrücklich sagen und wiederholen Sie es auch in Ihrem Freundeskreis. ME/CFS ist kein Simulieren, also kein vorsätzliches Vortauschen der Symptome, sondern ein eigenständiges, komplexes Krankheitsbild. Das sollte natürlich auch nicht mit dem Symptom der chronischen Müdigkeit, die sogenannten Fatigue-typischen Beschwerden, verwechselt werden. ME/CFS-Betroffene leiden neben einer beträchtlichen körperlichen Schwäche, die alle Aktivitäten stark einschränkt, auch unter neurologischen und immunologischen Symptomen. Die postexertionelle Malaise, auch wieder so ein herrliches Wortkonstrukt, PEM abgekürzt, das Wort Exertion kommt aus dem Englischen und bedeutet Anstrengung, also die "nach der Anstrengung Unwohlsein-Problematik" ist eine ausgeprägte und anhaltende Verstärkung aller Symptome. Und das ist wichtig zu wissen, auch nach geringer körperlicher oder geistiger Belastung. So kann zu den ausgeprägten Schwächeanfällen Muskelschmerzen, glibale Symptome und insgesamt eine Verschlechterung des allgemeinen Zustandes eintreten. Auch kleine Aktivitäten, ja, es ist so, wie Zähneputzen, Duschen, Kochen oder wenige Schritte gehen, können zum Problem werden und zu tagelanger Bettruhe zwingen. Die Patienten leiden in weiterer Folge sehr häufig auch unter Symptomen des autonomen Nervensystems, also Herzrasen, Schwindel, Benommenheit, Blutdruckschwankungen, vor allem beim Körperlagewechsel, das sogenannte orthostatische Fehlregulation. Die Hälfte aller Erkrankten schildert, sie können weniger lang stehen, sie können oft nicht einmal mehr lange sitzen und sie bemerken eine erhöhte Infektanfälligkeit. Viele Betroffenen haben zudem Schmerzen wie Muskelgelenkschmerzen, diffuse Kopfschmerzen. Häufig sind auch Muskelzuckungen und dazu passend Muskelkrämpfe in der Nacht. Also, lassen Sie uns wiederholen, Leitsymptome sind Schlafkonzentration, Merk- und Wortfindungsstörung, aber auch eine Überempfindlichkeit auf Sinnesreize. Die Betroffenen sind deshalb oft in abgedunkelten Räumen liegen und können sich auch oft nur flüsternd mit den Angehörigen verständigen, weil jede Verstärkung eines Lautes wehtut. Laut einer Studie der Aalborg-Universität in Dänemark aus dem Jahr 2015 ist die Lebensqualität von ME/CFS-Erkrankten im Durchschnitt niedriger als die von Multipler Sklerose, Schlaganfall oder Lungenkrebspatienten. Ein Viertel aller Erkrankten kann das Haus nicht mehr verlassen. Viele sind bettlägerig und auf Pflege angewiesen. Über 60% sind arbeitsunfähig und mehr als ein Viertel der Patienten rutscht in eine Pflegegeldbedürftigkeit. Die Erkrankung tritt häufig auch nach einer Infektionskrankheit auf. Als Auslöser werden hier Epstein-Barr-Virus und auch die Grippe genannt. Umso wichtiger ist es, liebe Zuhörerinnen und Zuhörer, dass Sie sich regelmäßig auch gegen die Grippe impfen lassen, weil damit so schwere Verläufe und auch die Folge dieser Verläufe entsprechend abgemildert sind. Das gilt natürlich nach wie vor auch für die Covid-Impfung. Nun, der genaue Mechanismus der Erkrankung ist leider Gottes noch ungeklärt. Die neuesten Studien weisen auf eine mögliche Autoimmunerkrankung und eine schwere Störung des Energiestoffwechsels hin. Aber ein valider Biomarker fehlt, sodass die Diagnose nach wie vor durch eine genaue Anamnese und durch eine exakte differenzialdiagnostische Abklärung gestellt werden kann. Eine valide Diagnose erfordert, dass ein Patient folgende Symptome hat. Eine wesentliche Verringerung oder Beeinträchtigung der sogenannten Restitutio ad Integrum, also eine wesentliche Beeinträchtigung des Abheilens einer Erkrankung ohne bleibende Schäden. 2. Der Verlust der Fähigkeit, an der von der Krankheit bei der Ausbildung im Beruf sowie in einsozialen oder persönlichen Aktivitäten wieder anzuknüpfen, also den Zustand zu erreichen, den man vor der Erkrankung eigentlich mit Wohlbefinden verknüpft hatte. Der dritte Punkt, die Symptome, die mehr als sechs Monate bestehen und von schwerer Müdigkeit begleitet sind, sind alleine schon ein ganz wichtiges Zeichen für eine mögliche ME/CFE-Erkrankung. Vor allen Dingen, wenn diese Beschwerden durch eine Ruhe überhaupt nicht besser werden. Viertens, wenn der Schlaf ohne Erholung ist. Und fünftens, noch einmal, wenn die Symptome sich auch nach geringen Belastungen, Stichwort Zähneputzen, verschlechtern. Die Wissenschaft fordert, dass mindestens eine der folgenden Manifestationen auch sein müssen, nämlich eine kognitive Beeinträchtigung, also eine Abschwächung der Hirnleistung. Nicht so ein bisschen vergesslich, sondern wirklich eine echte Beeinträchtigung ihrer vorher gewohnten Hirnleistung und die orthostatische Intoleranz. Natürlich muss zum Ausschluss anderer Erkrankung neben einer genauen Anamnese auch eine genaue Untersuchung erfolgen, zum Beispiel ein exakter physikalischer Status, ein Röntgen von Thorax, ein Herz-, Bauch- und Gefäßultraschall, Ein Ruhe, eventuell auch Belastungsecker, eine Lungenfunktion mit Sauerstoffmessung, ein gründliches Labor mit Blutbildzucker, Lipide, Leberwerte, Nierenfunktionswerte. Elektrolyte, Hb1c, der Langzeitzucker, Entzündungsfaktoren, aber auch Ausschluss von stattgehabter oder aktiv vorhandener Hepatitis, HIV und natürlich auch die Schilddrüsen-Funktionswerte. Bei entsprechenden Beschwerden sollten auch immer die folgenden Fachärzte eingebunden sein, Gastroenterologen, Neurologen, Rheumatologen. Und last but not least haben die Psychologen einen sehr großen Stellenwert letztlich auch bei den Therapieansätzen dieser wirklich sehr, sehr widerlichen Krankheit. Nun zur Therapie. Es tut mir leid, Ihnen mitteilen zu müssen, dass es bisher eine kausale oder zugelassene kurative Behandlung nicht gibt. Alle Alternativbehandlungen sollen den Zustand maßgeblich verbessern, aber auch hier gibt es keine einzige wissenschaftlich haltbare Beweisführung. Dass man einzelne Symptome wie zum Beispiel Schlafstörungen, Schmerzen oder die orthostatische Intoleranz behandeln bzw. Lindern kann, sei natürlich erwähnt. und alles, was die Lebensqualität der Erkrankten verbessert, ist sinnvoll. Zu beachten ist allerdings, dass besonders ME/CFS-Patienten sehr häufig und sehr empfindlich auf verschiedene Medikamente reagieren. Zusammenfassend kann also gesagt werden, ME/CFS lässt sich mit Kompetenz, Geduld und Zuwendung klar diagnostizieren. Die Krankheit zeigt einen eindeutig definierten Symptomkomplex und ist klinisch über eine ausführliche Anamnese bereits als wahrscheinlich einzuordnen. Etablierte Diagnosekriterien für alle Neugierigen sind die sogenannten kanadischen Konsenskriterien im Internet jederzeit nachzulesen. Wie ich schon erwähnt habe, ist eine umfangreiche Differenzialdiagnose sehr wichtig. Ganz entscheidend aber, nehmen Sie bitte zur Kenntnis, es ist keine seltene Krankheit. Es sind in Österreich, Deutschland und vermutlich der Schweiz ca. 300.000 Menschen, wenn nicht mehr betroffen. Auch hier ist die Dunkelziffer eine sehr große. Also ungefähr ebenso viele Menschen, wie an Multiple Sklerose erkrankt sind. Nächstes Faktor. Die Krankheit ist seit über 50 Jahren auch von der WHO anerkannt. Nächster Faktor. Die Krankheit ist weder eine Depression noch ein Burn-Out. Schon gar nicht sind die betroffenen Simulanten. Das lege ich allen Zuhörerinnen und Zuhörern, auch den Kolleginnen und Kollegen, innigst ans Herz. Auch denen, die im Rahmen von Pflegegelduntersuchungen Hausbesuche im Auftrag der Pensionsversicherung machen. Seien Sie bitte vorsichtig mit dem Begriff Simulant. Die Gleichsetzung von Depression und Burn-out führt leider Gottes sehr oft zu gegensätzlichen therapeutischen und schädlichen Behandlungen. Vermeiden Sie es bitte auch, bei diesen Patienten von chronisch Erschöpften zu sprechen. Denn das verharmlost die Situation der Betroffenen ganz erheblich. Jederzeit können Sie im Internet über deutsche und internationale Leitlinien zu ME/CFS nachlesen. Im Jahr 2021 erschien das Buch The Puzzle Solver. In diesem Buch beschreibt Wissenschaftsautorin Trace White, wie der Genetiker Prof. Dr. Ron Davis aus Stanford versucht, ME/CFS zu entschlüssen, um seinem schwer erkrankten Sohn zu heilen. Auch die Familie Ströck ist betroffen von dieser Krankheit und macht das auch publik. Sie hat sogar eine Foundation gegründet, WE und ME Stiftung, also die Stiftung für ME/CFS-Forschung in der Eiswerkstraße 18 im 22. Bezirk. Die E-Mail-Adresse kontakt@weandmecfs.org. In Deutschland info@dg.mecfs.de. Und in der Schweiz info@sgme.ch Liebe Zuhörerinnen und Zuhörer, ich danke für Ihre Geduld und freue mich sehr, wenn Sie an der Verbreitung dieses Wissens teilhaben, sodass wir den betroffenen Menschen viel Leid ersparen können. Mit herzlichen Grüßen, Ihr Dr. Huber. Music.